Achtsamkeit in Prophylaxe und Früherkennung von Burnout
Menschen mit dem Vollbild eines Burnout-Syndroms zeigen Symptome, die in vielerlei Hinsicht das Gegenteil dessen sind, was Achtsamkeit bedeutet und bewirkt. Statt innerer Ruhe herrschen Unruhe und Getriebenheit, gepaart mit Erschöpfung. Klarblick weicht einer verzerrten Wahrnehmung und einem eingeengten Denken. Auch Vermeidung und Verleugnung verhindern Einsicht. Statt sich mit den Anforderungen oder den eigenen Grenzen auseinander zu setzen, kommt es zur Flucht in Aktivitäten oder zu süchtigem Verhalten. Ablenkung und Betäubung helfen, nichts mehr zu spüren. Statt die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und im Kontakt mit Anderen zu sein kommt es zu Isolierung und Entfremdung von sich selbst und anderen. Statt Gleichmut und Gelassenheit wechseln einander die Überschwemmung mit Gefühlen und Gefühllosigkeit ab. Statt Mitgefühl breitet sich Mitgefühlsmüdigkeit oder Leere aus. Im englischen Sprachraum gibt es dazu einen Fachbegriff: „Compassion-Fatigue“ (Figley, 1995). Die Forderung, eine halbe Stunde Atem-Beobachtung zu üben, würde einen Menschen in einem solchen Burnout-Stadium allerdings komplett überfordern. Konzentration ist nahezu unmöglich. Er braucht professionelle Hilfe, um aus seinem Teufelskreis heraus zu kommen.
In der Erholungsphase, noch mehr aber in der Früherkennung und der Prophylaxe von Burnout, kann Achtsamkeit in vielerlei Hinsicht hilfreich sein. Ein einfaches Modell sieht die Ursache dieses „Ausbrennens“ in einem Missverhältnis zwischen den Anforderungen, die sich einem Menschen stellen und den Ressourcen, die er für deren Bewältigung zur Verfügung hat. Daraus ergeben sich zwei Ansatzpunkte: auf der einen Seite, sich von Anforderungen abzugrenzen, und auf der anderen Seite, Ressourcen zu aktivieren oder neu zu schaffen.
Abgrenzung von Anforderungen
Burnout-gefährdet sind insbesondere jene Menschen, die sich beruflich in hohem Maße engagieren und ihre Rollen sehr ernst nehmen. Bedrohlich kann es dann werden, wenn sie diese wichtiger nehmen als sich selbst oder sich voll mit der beruflichen Rolle identifizieren. Hier hilft das Erwachen des „Inneren Beobachters“, um sich in seinen unterschiedlichen Rollen differenzierter wahrzunehmen. Der innere Beobachter kann sich auch bewusst der Persönlichkeit und ihren ureigensten Bedürfnissen zuwenden. Die Kraft des Gewahrseins verhilft zur Disidentifikation, auch von Rollen.
Besonders in helfenden Berufen finden sich häufig Menschen, deren Antennen darauf eingerichtet zu sein scheinen, anderen Menschen die Wünsche und Bedürfnisse von den Augen abzulesen. Die Antennen für die eigenen Gefühle und Bedürfnisse sind dagegen nicht selten unterentwickelt. Achtsamkeit führt über die Wahrnehmung von Gefühlen und Bedürfnissen dazu, frühzeitig zu erkennen, wenn die eigenen Grenzen überschritten werden.
Für Menschen in helfenden Berufen ist es häufig auch schwierig, sich nicht mit den leidenden Menschen zu identifizieren, denen man begegnet. Oft verschwimmen die Grenzen zwischen Mitfühlen und Mitleiden, man vergisst sich selbst. Dann kann man sich mittels Achtsamkeit an sich selbst erinnern, indem man den eigenen Körper wieder bewusst wahrnimmt, sich wieder spürt, und somit zu sich selbst zurück kommt. Für den beruflichen Alltag kann es auch sehr förderlich sein, bewusst den Fokus der Aufmerksamkeit zwischen sich selbst und dem Gegenüber zu teilen.
Aktivierung von Ressourcen
Um Ressourcen überhaupt wahrzunehmen, muss man die Aufmerksamkeit darauf fokussieren können. Gegenwärtigkeit hilft dann dabei, Nährendes wirklich aufzunehmen. Und die Übung von Achtsamkeit unterstützt beides. Zentrale Ressourcen bei der Bewältigung von Belastungen sind Gelassenheit, Gleichmut und die Fähigkeit, zwischendurch immer wieder zur Ruhe zu kommen. Achtsamkeit kultiviert diese Ressourcen zusammen mit Mitgefühl und liebender Güte. So fördert eine fortgeschrittene Achtsamkeitspraxis inneren Frieden gerade zu Zeiten starken Leids.
Auch die Kunst, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, schützt vor Überforderung – was in der Achtsamkeitspraxis besonders geschult wird Diese erleichternde und unterstützende Kraft der Achtsamkeit wird in Michael Endes Roman „Momo“ (1988, S. 36) beleuchtet: Darin wird Beppo der Straßenkehrer danach gefragt, wie er es schaffe, mit seinem kleinen Besen eine sehr lange Straße zu kehren, ohne zu verzweifeln. Er verrät Momo sein Geheimnis: „Schritt – Atemzug – Besenstrich. Schritt – Atemzug – Besenstrich“ – seine Strategie der Konzentration und der Fokussierung auf die augenblickliche Bewegung und seinen Atem.
Aus: Weiss/Harrer/Dietz: Das Achtsamkeits-Buch. Klett-Cotta 2010/2019 (S 62-64)