Achtsamkeit zur Förderung von Gesundheit und Resilienz

Artikel von Michael E. Harrer und Ines Rapposch erschienen in der Broschüre “Gesundheitsförderung” – Angebote für Kindergarten und alle Schulstufen im Schuljahr 2017/18. Hrsg: Deutsches Bildungsressort. Bereich Innovation und Beratung der Autonomen Provinz Bozen – Südtirol

Der tief verwurzelte Wunsch, uns selbst und unsere Familie, aber auch liebgewonnene Mitmenschen vor schädigenden und krankmachenden Einflüssen, vor Überforderung und Krisen zu bewahren, ist leider nur sehr eingeschränkt erfüllbar. Was wir allerdings lernen und lehren können ist die Fähigkeit, auch in reißenden Abschnitten des Lebensflusses zu schwimmen und immer wieder aufzutauchen, wenn man unter die Wasseroberfläche gezogen wird. Wir können auch unsere eigene Widerstandsfähigkeit – unsere Resilienz – stärken und wesentlich dazu beitragen, dass die uns nahen und anvertrauten Menschen selbst Resilienz entwickeln.

Die Schulung von Achtsamkeit kann einen wertvollen Beitrag zur Stärkung von Resilienz und somit auch zur Förderung der Gesundheit von Lehrpersonen leisten. Achtsamkeit bedeutet eine bewusste Lenkung der Aufmerksamkeit auf die sich ständig verändernde Erfahrung im jeweils gegenwärtigen Moment. Sie ist gekennzeichnet durch eine akzeptierende Haltung gegenüber diesem Erleben, indem man es weder bewertet noch verändern will (vgl. Weiss, Harrer, Dietz 2015).

Anhand von vier Prinzipien soll im Folgenden erläutert werden, wie Achtsamkeit die Resilienz stärkt:

  1. Das Resonanzprinzip verweist auf die große Bedeutung von Beziehungen bei der Entwicklung von Resilienz,
  2. das Lotosprinzip versinnbildlich die schützenden Aspekte der Resilienz,
  3. das Stehaufmenschen- oder Bambusprinzip beinhaltet jene Kräfte, die uns nach Belastungen wieder aufrichten und uns weitergehen lassen
  4. und das Bild der Perle verdeutlicht, wie leidvolle Erfahrungen und Krisen unsere Entwicklung fördern können.

1. Das Resonanzprinzip

Das Resonanzprinzip: Achtsamkeit fördert das unmittelbare Wahrnehmen unseres Körpers und die Einstimmung auf uns selbst. Wenn wir aus dieser verkörperten Präsenz auch unsere Umwelt wahrnehmen und uns auf andere Menschen einstimmen entsteht Resonanz. Diese wiederum legt den Grundstein zur Resilienz.

Aus der Entwicklungspsychologie wissen wir, dass das Erleben einer Bezugsperson als sicherer Hafen die Basis dafür bildet, die Welt offen und neugierig zu erforschen und Neues auszuprobieren. Ein sicherer Hafen wird erlebbar und mit der Zeit verinnerlicht, wenn sich wesentliche Bezugspersonen feinfühlig d.h. verlässlich, prompt und angemessen auf das Kind einzustimmen vermögen.

Voraussetzungen für diese Einstimmung der Bezugsperson sind deren Präsenz und ein stimmiges Ruhen in sich selbst. Wenn das Kind wahrnimmt, dass diese sich einstimmt, und es sich gefühlt fühlt entsteht Resonanz. Diese Resonanz gilt in der interpersonalen Neurobiologie als wesentlicher Faktor für die Gehirnreifung (Siegel 2007).

Heilsame Beziehungserfahrungen tragen aber auch zur Entwicklung von Resilienz bei, indem sie das Bindungsverhalten positiv beeinflussen. Insbesondere bei schwierigen Beziehungen in der Herkunftsfamilie sind Lehrpersonen nicht selten jene bedeutsamsten Bezugspersonen, die über ihr Beziehungsangebot zur Entwicklung von Resilienz beitragen. Auch beim Erlernen sozialer und emotionaler Kompetenzen spielt die Schule und insbesondere die Modellfunktion von Lehrkräften oft eine große Rolle. Siegel und seine Mitarbeiterinnen (2016) sprechen von den drei R‘s der Erziehung: Relationship, Resilience, Reflection. Als viertes R könnte man noch die Resonanz ergänzen. Die interpersonale Neurobiologie leistet wesentliche Beiträge zur Reflexion der Zusammenhänge zwischen Beziehungsangebot, Beziehungserfahrungen, Bindungsverhalten und Gehirnentwicklung. Die Achtsamkeitspraxis sieht Siegel als Möglichkeit, heilsame Bindungserfahrungen nachzuholen, indem man sich selbst der verlässlichste und beste Freund wird und dabei auch das Gehirn nachreifen kann.

Achtsamkeit kultiviert darüber hinaus einen heilsamen Aspekt der Beziehung zu sich selbst: Selbstmitgefühl – einen wohlwollenden und freundlichen Blick auf eigene, nicht perfekte, ungenügende und leidende Anteile und die Verbundenheit mit anderen Wesen, gerade auch im Leiden.

2. Das Lotosprinzip

Das Lotosprinzip: Wir können Belastendes abperlen lassen, indem wir Akzeptanz, Nicht-Reaktivität und Gelassenheit kultivieren.

Lotosblumen gedeihen in schlammigen Gewässern. Schmutzpartikel können an der Oberfläche von Lotosblättern nicht anhaften und somit auch nicht eindringen. Indem sie sich nicht beschmutzen lassen, nehmen sie das Sonnenlicht ungefiltert in sich auf.

Auch die Achtsamkeit schützt vor den Auswirkungen widriger Einflüsse. Dazu trägt wesentlich die Akzeptanz als ein essenzieller Baustein bei: Erfahrungen werden so akzeptiert wie sie sind. Die erste Stufe der Akzeptanz im Rahmen der Achtsamkeitspraxis wäre der Verzicht auf den Kampf gegen unerwünschtes Erleben. Die zweite Stufe der Akzeptanz besteht in dem für die Achtsamkeit charakteristischen Einnehmen einer Beobachterhaltung. Man beobachtet die Automatismen des Ablehnens, Bewertens und Vergleichens: „Ah, könnte man freundlich zu sich sagen, da ist wieder eine Bewertung“. In der dritten Stufe – der Nicht Reaktivität – werden Bewertungen nicht mehr unmittelbar in Handlungen umgesetzt. Zwischen einem Impuls und dessen Wahrnehmung und der Ausführung einer Handlung liegt ein Raum. Man lernt und übt, die in diesem Raum zwischen Impuls und Handlung liegende Freiheit zu nutzen. Auf der vierten Stufe verinnerlicht man mit zunehmender Übung eine Haltung, aus der heraus man einfach nur wahrnimmt. Aus dem Herzenswunsch, die Menschen und die Dinge einfach nur so wahrzunehmen, wie sie sind, und aus der Abwesenheit der Automatismen des Bewertens erwächst eine grundlegendere Form des Nicht-Reagierens und der Gelassenheit. In der Geschichte von Odysseus, der sich am Mast anbinden ließ, um nicht den Versuchungen der betörenden Gesänge der Sirenen zu erliegen, würde Achtsamkeit bedeuten, wahrnehmen, ohne unmittelbar handeln zu müssen – die Sirenen zu hören, ohne ihren Rufen folgen zu müssen. Parallel dazu relativieren sich Bewertungen, wenn man durch die Achtsamkeit übt, alles aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten.

Das Vorhaben, die Automatismen des Bewertens und Vergleichens zu erkennen und zu unterbrechen, stellt gerade in der Schule eine große Herausforderung dar, da der Alltag in besonderem Maße von der Forderung nach Bewertungen geprägt ist.

Achtsamkeit unterstützt die Regulation von Emotionen nicht nur durch eine akzeptierende Haltung gegenüber unangenehmen Erfahrungen, sondern auch durch die gezielte Lenkung der Aufmerksamkeit. So kann man sich beim Auftauchen von Emotionen erden, indem man sich ganz auf die eigenen Füße konzentriert und ein paar bewusste Atemzüge nimmt, um sich zu zentrieren. Das Einnehmen der Beobachterhaltung fördert die Disidentifikation und das Nicht-Reagieren-Müssen. Man könnte dann beispielsweise zunächst einfach bemerken: „Ah, da steigt Wut auf“. Anschließend kann man die durch das wahrnehmende Innehalten entstehende Wahlmöglichkeit ausschöpfen. Man könnte die Energie der Wut nutzen, etwa um auf angemessene und heilsame Weise klare Grenzen zu setzen oder sich auf andere einzustimmen und sich zu bemühen, deren Verhalten zu verstehen, um es zu einem geeigneteren Zeitpunkt zum Thema zu machen und gemeinsam nach konstruktiven Verhaltensalternativen zu suchen.

3. Das Stehaufmenschen- oder Bambus-Prinzip

Das Stehaufmenschen- oder Bambus-Prinzip: Die Fokussierung auf Ressourcen, Kompetenzen und Lösungen lässt uns wieder aufstehen. Das Gewahrsein über unsere Werte und Motivationen geben uns den Mut und die Kraft, unseren Weg weiterzugehen.

Resilienz besteht auch darin, sich wie ein „Stehaufmensch“ (Groh 2014) nicht dauerhaft umwerfen zu lassen oder biegsam zu sein wie ein Bambus, der dem Winddruck nachgibt und sich neigt und sich nach dem Windstoß wieder aufrichtet.

Wenn wir uns in Krisen hilflos und ohnmächtig ausgeliefert fühlen, kann es hilfreich sein, sich an Ressourcen im Innen und Außen und an die vorhandenen Kompetenzen zu erinnern. In der Achtsamkeitspraxis übt man, wahrzunehmen, was ist und nicht darüber nachzudenken, was nicht ist oder wie etwas sein sollte. Wenn man etwa bei der Atembeobachtung seine Aufmerksamkeit immer wieder auf das Heben und Senken der Bauchdecke zurückführt, wenn die Gedanken auf Wanderschaft gehen, erhöht sich mit zunehmender Übung die Freiheit in der Wahl der Objekte, denen man seine Aufmerksamkeit schenkt. Man bemerkt immer früher, wenn das kreisende Nachsinnen über Probleme die Sicht auf Lösungen verstellt und man kann zumindest ein Stück weit bewusster entscheiden, worauf man die Aufmerksamkeit lenkt.  Achtsamkeit schult auch die Fähigkeit, sich immer öfter an die gute Absicht, die unser Handeln steuern sollte, zu erinnern und sie immer kontinuierlicher im Gewahrsein zu halten.

Wenn wir in Krisen die Orientierung verlieren hilft die Achtsamkeit, uns an unsere Werte zu erinnern, die uns wie ein Leuchtturm auch bei ungünstigen Wetterbedingungen die Richtung weisen, in die wir unser Lebensschiff lenken können. Sie liefern uns auch die Motivation und den Treibstoff, uns immer wieder weiterzubewegen.

4. Das Perlen Prinzip

Das Perlen-Prinzip: Das Kultivieren von Selbstaufmerksamkeit, Selbstfürsorge und Selbstmitgefühl ermöglicht die Integration und Transformation auch von schmerzvolleren Erfahrungen.

Muscheln im Meer bilden wunderschöne und wertvolle Perlen, wenn ein Fremdkörper, etwa ein Sandkorn in sie eindringt: Sie schützen sich vor der durch ihn verursachten Irritation, indem sie ihn mit vielen schillernden Schichten von Perlmutter umhüllen.

Die erste Voraussetzung dafür, gut für sich sorgen zu können, besteht darin, sich selbst überhaupt die Aufmerksamkeit zu schenken, um wahrnehmen zu können, „wo genau der Schuh drückt“. Achtsamkeit schult diese Selbstaufmerksamkeit und eine differenzierte Selbstwahrnehmung. Dann braucht es noch den freundlichen Blick der Achtsamkeit auf sich selbst und die eigenen leidenden Anteile, um sich erlauben zu können, gut für sich zu sorgen. Wenn wir uns selbst der beste Freund sind und auch unsere Bedürfnisse kennen und uns Raum geben, steht einem liebevollen Sorgen für uns selbst nichts mehr im Wege. Wir können dabei auch andere Menschen um Unterstützung bitten.

Wenn wir uns schützen und gut für uns sorgen können, wird es auch möglich uns jenen Aspekten von Belastungen, Krisen oder gar von traumatischen Erfahrungen zuzuwenden, die uns bereichern. Gerade schmerzhafte Erfahrungen lassen uns oft reifen, uns weiter und toleranter werden, nicht selten auch liebevoller und verbundener mit anderen Menschen und dem großen Ganzen. In der Arbeit mit traumatisierten Menschen spricht man von „posttraumatischem Wachstum“ das oft auch neue religiöse und spirituelle Dimensionen eröffnet.

Ausblick

Gerade im Bereich der Pädagogik sollte das Erwerben von Lebenskompetenzen und Resilienz ein zentrales Ziel sein. Wenn es gelingt, sich die resilienzfördernden Prinzipien immer wieder in Erinnerung zu rufen, so kann das wesentlich zu einer Entwicklung und Lernprozesse fördernden Gestaltung des schulischen Umfeldes beitragen. Es wird die Gesundheit, das Wohlergehen und das Erleben von Freude von Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern fördern. Die Schulung von Achtsamkeit kann ein sehr konkreter und wertvoller Baustein auf diesem Weg sein.

Literatur

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