Stress und Stressmodelle
Das Wort Stress kann zweierlei bedeuten: einen Belastungsfaktor (Stressor) und die Reaktion auf diesen Stressor (Stressreaktion). Diese Reaktion des Organismus ist unspezifisch d.h. unabhängig von der Art der Belastung. Stressoren können über einen kurzen oder längeren Zeitraum wirksam werden, kurzfristig zu einer durchaus erwünschten Anpassung führen, langfristig aber auch erschöpfen und krank machen. So wäre etwa ein beschleunigter Puls vor einem Wettlauf durchaus gesund und Lampenfieber hilft, die nötige Spannung aufzubauen, während ein stabiler Bluthochdruck eine langfristige dysfunktionale Stressreaktion darstellt.
Somit gibt es Überschneidungen zwischen den Konzepten von Burnout und Stress. Bei Burnout lassen sich durchaus Stressoren definieren, die primär im Arbeitsbereich liegen und die Betroffenen über einen längeren Zeitraum hinweg überfordern. Burnout entwickelt sich nicht von einem Tag auf den anderen. Viele körperliche Reaktionen sind mit dem Stressmodell zu erklären, die psychischen Symptome sind spezifischer. So ist etwa Depersonalisierung eine Komponente von Burnout, die eher als dysfunktionale Bewältigungsstrategie zu verstehen ist und nicht als Stressreaktion.
Zum Verständnis von Stress sind unterschiedliche Modelle hilfreich:
Walter Canon und die Notfallreaktion
Die Aktivierung des Kampf-Flucht-Systems hatte Walter Cannon erstmals 1929 als Notfallreaktion beschrieben und damit den Grundstein der Stressforschung gelegt, die zum Verständnis von Burnout wesentlich beiträgt.
Auf seiner Suche nach den körperlichen Grundlagen von Emotionen fand Cannon bei Tieren, die bedroht wurden, einen erhöhten Adrenalin- und Blutzuckerspiegel. Der Sinn dieser Reaktion besteht in der Bereitstellung der zur Auseinandersetzung mit der Bedrohung notwendigen Energie. Die Aktivierung des sog. sympatho-adrenalen Systems führt unmittelbar zur Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin aus dem Nebennierenmark. Diese Hormone bewirken in verschiedenen Organen des Körpers eine Umstellung: das Herz schlägt schneller und kräftiger, die Muskeln werden besser durchblutet, um kämpfen oder fliehen zu können. Unabhängig von der genauen Art der Bedrohung zeigte sich bei unterschiedlichsten Säugetierarten die gleiche unspezifische physiologische Stressreaktion.
Hans Selye und das allgemeine Adaptationssyndrom
Hans Selye (* 1907 in Wien, + 1982 in Montreal) führte den Begriff Stress in die Medizin und Biologie ein, er gilt deshalb als Vater der Stressforschung. Bei einer länger dauernden Belastung seiner Versuchstiere machte er drei Beobachtungen: die Thymusdrüse schrumpfte, die Nebennierenrinde vergrößerte sich und es traten Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüre auf. Die damit zusammenhängenden physiologischen Prozesse fasste er unter dem Begriff des allgemeinen Adaptationssyndroms zusammen. Dabei fand er ein zeitliches Verlaufsmuster von drei Stufen: die Alarmreaktionen (Schock- und Gegenschockphase), Resistenzstadium und Stadium der Erschöpfung. Am Beginn der Stressreaktion werden von der Hypophyse große Mengen des adrenocorticotropen Hormons (ACTH) sezerniert, das wiederum die Ausschüttung von Hormonen aus der Nebennierenrinde anregt. Im Stadium der Erschöpfung zeigt der Körper die typischen Symptome einer Stresskrankheit.
Selye brachte damit neben den im Nebennierenmark produzierten Katecholaminen (Adrenalin und Noradrenalin) die Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse und die Glucocorticoide (Cortisol u.a.) in den Fokus der Stressforschung. Es war auch Hans Selye, der den Stressor als den belastenden Reiz von der Stressreaktion, der Antwort des Organismus unterschied. Um krankmachenden Stress von normalen, gesunden Herausforderungen abzugrenzen, prägte er die Begriffe Distress und Eustress.
Im weiteren Verlauf der Stressforschung wurde allerdings beobachtet, dass weder Versuchstiere, noch Menschen auf die gleichen Außenreize und Situationen mit Stress reagieren. Was bei den einen zum Stressor wird und starke Reaktionen auslöst, lässt andere unberührt. Bei genauer Betrachtung lassen sich auch bei den Reaktionen verschiedene Muster erkennen.
Richard Lazarus und die transaktionale Stresstheorie
Das brachte den amerikanischen Psychologen und Emotionsforscher Richard S. Lazarus (* 1922 in New York, + 2002) auf die Bühne der Stressforschung und führte zur Entwicklung seiner transaktionalen Stresstheorie. Er beschränkte sich weder auf die Erforschung der Stressreaktionen noch auf die Stressoren. Für ihn ergab sich Stress aus der Wechselwirkung (Transaktion) zwischen situativen Faktoren der Umgebung und einer denkenden, fühlenden und handelnden Person. Ein Reiz ist für sich allein gesehen nie ein Stressor, er wird dazu erst durch entsprechende körperliche und psychologische Reaktionen eines Individuums. Dieses Verständnis eröffnet Raum für eine individualisierende Sichtweise von Stress, bei der es von der aktuellen und subjektiven Interpretation der einzelnen Person und ihrer Bewältigungskompetenz abhängt, ob ein Ereignis stresshaft ist oder nicht.
Lazarus führte damit eine wesentliche Dimension für das Verständnis der Entwicklung von Stressreaktionen ein: die kognitive Bewertung. Wenn ein Individuum mit einem Reiz konfrontiert wird, stellen sich ihm zwei Anforderungen: Die Situation muss hinsichtlich ihrer Bedeutung für das eigene Wohlbefinden und Selbstwertgefühl eingeschätzt werden, zum anderen muss eingeschätzt werden, welche Möglichkeiten für die Bewältigung der Belastung momentan zur Verfügung stehen. Lazarus nennt diese Vorgänge primäre und sekundäre Bewertung (appraisal).
Bei der primären Bewertung kann die Person das betreffende Ereignis (1.) als irrelevant und bedeutungslos ansehen, (2.) als positiv erfreulich oder (3.) als negativ. Dieser letzte Fall kann zum Ausgangspunkt einer Stressreaktion werden. Solche als negativ eingeschätzten Ereignisse können z.B. Beeinträchtigungen der eigenen Unversehrtheit durch Krankheiten oder Unfälle sein, der Verlust nahestehender Menschen und Schädigungen der sozialen oder persönlichen Achtung. Diese Ereignisse wirken aber nicht nur dann als Stressoren, wenn sie tatsächlich eintreten. Sie können das Gefühl einer Bedrohung auch schon auslösen, wenn sie nur potentielle Folgen einer Situation sind. Somit kann schon die bloße Vorstellung und Vorwegnahme eines stresserzeugenden Ereignisses Stressreaktionen in Gang setzen. Es kann biologisch durchaus sinnvoll sein, das Individuum vorbereitend zu aktivieren, damit es beim realen Eintreten der Situation in der Lage ist, diese erfolgreich zu bewältigen. Auch wenn eine erwartete Situation als Herausforderung eingeschätzt wird, kann dies den Organismus mobilisieren. Die Einschätzung einer zukünftigen Situation als Herausforderung betont jedoch eher die in ihr liegenden Chancen als die Gefahren, sei es ein Gewinn oder individuelles Wachstum. Herausforderungen sind in der Regel mit entsprechend positiv gefärbten Emotionen verbunden. So wie etwa ein Bewerbungsgespräch können viele Aufgaben durchaus auch beide Aspekte beinhalten, die einer Bedrohung und die einer Herausforderung.
Im Rahmen der sekundären Bewertung schätzt das Individuum ein, was getan werden kann, um mit dem Stressor konstruktiv um zu gehen, ihn z.B. zu beseitigen oder sich auf seine Bewältigung vorzubereiten. Dazu wird oft in Blitzesschnelle und gar nicht bewusst evaluiert, welche Bewältigungsmöglichkeiten zur Auswahl stehen und wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie Erfolg haben. Dabei sind primäre und sekundäre Bewertung nicht als Reihenfolge zu verstehen, beide fließen ineinander und es hängt auch von den Bewältigungsmöglichkeiten ab, ob eine Situation als bedrohlich oder als Herausforderung eingeschätzt wird.
Auf Prozesse der Bewältigung (Coping), auf problemfokussierende, emotionsfokussierende, direkte und indirekte Strategien wurde schon hingewiesen.
Stresskonzepte sind für Burnout aus mehreren Gründen von Bedeutung. Zum einen liefern sie die am besten fundierten wissenschaftlichen Befunde für das Verständnis insbesondere der körperlichen Symptomatik. Zum anderen bilden speziell die Konzepte von Lazarus die Grundlage für viele Stressbewältigung-Trainings. Dabei sollen die primären und sekundären Bewertungen bewusst gemacht und verändert werden. Ein weiteres Ziel besteht in Erweiterung des Repertoires an konkreten jeweils situationsangemessenen Bewältigungsstrategien.
Sozialer Stress im Tiermodell
Zum Verständnis von sozialem Stress tragen auch Tiermodelle bei. Tupajas sind in der Stressforschung sehr beliebt. Diese tagaktiven Säugetiere sind knapp so groß wie Eichhörnchen und leben als Paare in Territorien, die sie heftig gegen Fremde verteidigen. Setzt man ein fremdes Tupaja-Männchen zu einem solchen Paar, kommt es zu heftigen Kämpfen, die mit der Unterwerfung des Eindringlings enden. Sobald die Dominanzbeziehungen geklärt sind, beendet der Sieger seine Attacken und schenkt dem Verlierer kaum noch Beachtung. Der Unterlegene verkriecht sich in ein möglichst geschütztes Versteck, das er nur noch zum hastigen Fressen und Trinken verlässt. Auch in den folgenden Tagen gibt es zwischen den Rivalen keine oder nur sehr seltene Kämpfe. Dennoch zeigen sich bei den unterlegenen Tieren extreme Folgen: Die Glucocorticoide in ihrem Blut steigen um ein Vielfaches, sie verlieren täglich bis zu zehn Prozent ihres Gewichts, sie putzen sich nicht mehr, werden apathisch und sterben innerhalb von zwei bis zwanzig Tagen. Die Todesursachen sind weder die körperliche Anstrengung beim Kampf, noch Verwundungen. Vielmehr führt die ständige Anwesenheit des Siegers zum Tod des Unterlegenen. Trennt man nämlich beide Tiere nach der Unterwerfung durch eine undurchsichtige Trennwand, so erholt sich der Verlierer ebenso schnell vom Kampf wie der Sieger und bleibt am Leben, selbst wenn man die beiden über Wochen täglich für einen kurzen Kampf zusammenbringt. Trennt man sie jedoch nur durch eine Gitterwand, so dass der Verlierer zwar nicht mehr attackiert werden kann, den bedrohlichen Sieger jedoch ständig sieht, stirbt er innerhalb von ein bis zwei Wochen. Mit menschlichen Augen betrachtet könnte man sagen: der Unterlegene stirbt an der andauernden Angst.[1]
Russische Wissenschafter studierten Mantelpaviane. Diese leben normalerweise in Gruppen, die aus einem dominanten Männchen und seinem Harem von einigen Weibchen und ihren Jungen bestehen. Dem dominanten Männchen steht die beste Nahrung zu und kein Gruppenmitglied wagt es zu fressen, solange der Pascha nicht satt ist. Das Männchen duldet in seinem Harem keine Konkurrenten, diese werden vertrieben oder getötet. Setzt man einen solchen Pascha in ein Gehege, das von seiner ehemaligen Gruppe durch ein Gitter getrennt ist und lässt ein fremdes Männchen zu seiner Gruppe, so versucht er zunächst ständig, seinen Rivalen durch das Gitter hindurch zu attackieren und zu vertreiben. Unter diesen Bedingungen entwickelt das Männchen nach nur wenigen Wochen Verhaltensstörungen, Herz-Kreislauf-Schäden sowie Bluthochdruck und stirbt vielfach an den Folgen der pathophysiologischen Veränderungen. In derartigen stabilen Sozialverbänden ist die Herzfrequenz der unterlegenen Tiere stets deutlich höher als die der dominanten, was auf eine ständige emotionale Anspannung bei den unterlegenen Gruppenmitgliedern hinweist. [2]
Spannend sind auch die Modelle, welche die schützende Wirkung sozialer Bindungen belegen. Bei den Wildkaninchen bringen die Weibchen im Jahr bis zu 60 Junge zur Welt, von denen nur etwa fünf Prozent den ersten Winter überleben. Die Jungtiere verlassen im Herbst ihre Geburtsgruppen und versuchen, sich anderen Gruppen anzuschließen. Hierbei werden sie zunächst von den erwachsenen Männchen der fremden Gruppe attackiert und verjagt. Nach einiger Zeit gelingt es einzelnen schließlich doch noch, in eine Gruppe integriert zu werden. Sie blieben dann nahezu ausschließlich im Territorium ihrer neuen Gruppe. Jungtiere, denen eine derartige Integration nicht gelingt, streifen im gesamten Gebiet umher und versuchen immer wieder erneut, an eine Gruppe Anschluss zu finden. Während die Erwachsenen zu den neu integrierten Tieren zunehmend freundlicher werden, verhalten sie sich gegenüber den nicht integrierten aggressiv. Eindrucksvoll sind die Unterschiede im Immunstatus zwischen den integrierten und den nicht integrierten Tieren. Sie haben eine geringere Zahl von weißen Blutkörperchen, die auch weniger aktiv sind und weniger Antikörper im Blut. Dass dies eine Folge der Integration bzw. deren Fehlen ist, konnte bewiesen werden, indem sich der Immunstatus verschlechterte, wenn Tiere wieder aus der Gruppe ausgeschlossen wurden, während er sich bei nicht integrierten selbst im Winter verbesserte, wenn ihnen die Integration in eine Gruppe doch noch gelang. Die meisten der nicht integrierten Tiere sterben im Winter weil sie von Darmparasiten befallen werden. Diese können sich nur bei jenen Tieren vermehren, deren Immunsystem geschwächt ist.
Beeindruckend sind auch die Befunde von harmonisch zusammenlebenden Tupaja-Pärchen im Vergleich zu unharmonischen Paaren. Etwa zwanzig Prozent der gepaarten Männchen und Weibchen bilden eine über viele Jahre konstante harmonische Paar-Beziehung. Bei diesen Paaren gibt es keine aggressiven Auseinandersetzungen und die Tiere markieren einander von Beginn an immer wieder gegenseitig. Besonders auffallend ist eine Verhaltensweise, die dem Küssen bei Menschen ähnelt. Tagsüber ruhen die Tiere zumeist gemeinsam, nachts schlafen sie im selben Schlafkasten. Bei den harmonisch zusammenlebenden Partnern waren die Serumkonzentrationen an Glucocorticoiden und an Katecholaminen deutlich geringer, die Herzfrequenz war bleibend um bis zu 25% niedriger und zugleich waren die immunologischen Werte besser. Im Falle einer Trennung stellten sich wieder die ursprünglichen Werte ein.
In vielem sind die Menschen wohl den Tieren ähnlich. Auch in menschlichen Hierarchien finden sich Dominanz- und Unterwerfungsbeziehungen. Veränderungen in dieser Ordnung können massive Reaktionen zur Folge haben. Schicksale, die Parallelen zu den Mantelpavianen aufweisen, d.h. Menschen, die schwer krank werden oder sterben, wenn sie ihre dominante Rolle verlieren und mitansehen müssen, wie ein anderer ihre Rolle einnimmt, sind nicht selten. Die Bedeutung von Kontrolle für das Auftreten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen konnte auch bei Menschen nachgewiesen werden, zumindest bei Männern (Siegrist & Dragano 2008). Die positiven Auswirkungen von sicheren Beziehungen und von sozialer Unterstützung auf die körperliche und psychische Gesundheit sind ebenfalls in den Grundzügen auf Menschen übertragbar. Die kleine Monica war ein Beispiel dafür.
[1] Holst von (2011) Soziale Umwelt und ihr Einfluss auf Gesundheit und Wohlbefinden von Säugetieren. In Adler et al (Hrsg) Psychosomatische Medizin. Theoretische Modelle und klinische Praxis (7. Aufl., S 251–266). München [u.a.]: Elsevier, Urban & Fischer. S 254
[2] Holst von (2011) Soziale Umwelt und ihr Einfluss auf Gesundheit und Wohlbefinden von Säugetieren. In Adler et al (Hrsg) Psychosomatische Medizin. Theoretische Modelle und klinische Praxis (7. Aufl., S 251–266). München [u.a.]: Elsevier, Urban & Fischer. S. 262-263